Ween – Chocolate and cheese (1994)
Wer mein Geschreibsel im sog. Internetz schon etwas länger verfolgt, wird nicht sonderlich überrascht sein, dass eine „Ween“-Platte den Spitzenplatz auf der Liste meiner prägenden Alben belegt. Immerhin habe ich die Band hier schon das ein oder andere Mal lobend erwähnt, auf einer der Erdbeerschorsch-Vorgänger-Webseiten habe ich mich sogar einmal an einer Art Biographie der Gruppe versucht (den Link lasse ich aus Gründen der Peinlichkeits-Prophylaxe lieber weg). Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Plätze 1 bis 3, was den Einfluss auf meine musik-geschmackliche Entwicklung anbelangt, sehr dicht beisammenliegen, abhängig von Stimmung und Tagesform kann es durchaus passieren, dass auch mal eines der beiden anderen Alben auf den ersten Platz rotiert. Die 3 Bestplatzierten meiner Top 50 haben darüber hinaus weitere Gemeinsamkeiten: a.) ich kenne die Diskografien der jeweiligen Bands ziemlich gut bzw. besser als die anderer Künstler, b.) die von mir präferierten Alben waren chronologisch die 3. bzw. 4. Veröffentlichung der jeweiligen Gruppe und waren c.) die ersten Platten, die ich von den jeweiligen Bands gehört habe. Keine Ahnung, ob das Zufall ist oder ob diese Konstellation einen Faktor für die Nachhaltigkeit der Prägung meines Musikgeschmacks darstellt. Ähnlich wie etwa die „Pixies“, kennt man „Ween“ als Otto-Normal-Musikkonsument – wenn überhaupt – dann nur über Umwege. So sind Songs der Band z. B. auf den Soundtracks von „Ey Mann, wo is’ mein Auto?“ (2000), „Lammbock“ (2001) oder „Herr Lehmann“ (2003) vertreten. Wir älteren Semester kennen Musikvideos von „Ween“ aus verschiedenen „Beavis & Butthead“-Folgen, während die Jungen und Junggebliebenen 2 ihrer Lieder bei „Spongebob Schwammkopf“ hören können (das 1997 erschienene „Ween“-Album „The mollusk“ soll „Spongebob“-Erfinder Steve Hillenburg übrigens nachhaltig inspiriert haben). Wie ich damals, irgendwann Mitte der Neunziger Jahre, auf „Chocolate and cheese“ gestoßen bin, kann ich heute nicht mehr zweifelsfrei rekonstruieren, möglicherweise war die ansprechenden Cover-Gestaltung ein Kaufargument. Im Gegensatz zu „Gimmick“ und „Bossanova“ war die Platte für mich zum damaligen Zeitpunkt jedoch kein musikalisches Erweckungserlebnis; ich fand sie anfangs vermutlich einfach unterhaltsam, meine besondere Beziehung zu der Scheibe hat sich erst im Laufe der Zeit entwickelt. Nun aber erst mal ein paar Fakten zur Band: Gene und Dean Ween, die mit bürgerlichen Namen Aaron Freeman und Mickey Melchiondo heißen, haben sich Mitte der 80ger Jahre in der Schule kennengelernt und bald ihre gemeinsame Leidenschaft fürs Musizieren entdeckt. Die auf einem 4-Spur-Rekorder aufgenommenen Lieder veröffentlichten die beiden jungen Herren zunächst im Selbstverlag auf Musik-Kassette, daneben absolvierten sie Live-Auftritte als Duo (Schlagzeug und Bass kamen aus der Konserve) und brachten es so zu regionaler Popularität, bis sie schließlich vom Independent-Label „Twin/Tone“ entdeckt wurden und einen Plattenvertrag bekamen. 1990 erschien ihr Debüt „GodWeenSatan: The Oneness“. Ihr 3. Album „Pure guava“ (1992) erschien dann bereits beim Major-Label „Elektra“, wo sie 4 weitere Longplayer veröffentlichten, ehe sie 2003 mit „Quebec“ wieder zu einer unabhängigen Plattenfirma wechselten. Ihr bislang letztes Studio-Album „La Cucaracha“ erschien 2007. Seitdem ist die Band – abzüglich einer temporären Trennung zwischen 2011 und 2015 – regelmäßig auf Tournee und beglückt ihre treuen Fans mit einem Best-of-Programm; ihr Heimatland verlassen die beiden Amis dabei jedoch maximal für einen Abstecher nach Kanada. An „Ween“ und ihrer Musik scheiden sich die Geister. Die einen halten Gene und Dean Ween für musikalische Genies, die es wie nur wenige andere verstehen, im Sinne des Dekonstruktivismus aus Vorhandenem Neues zu erschaffen. Zu ihnen gehört z. B. der Musik-Blogger George Starostin, der sich u. a. fragt, warum „Ween“ nicht so berühmt sind wie die „Beatles“ und die Antwort gleich mitliefert: „Well, you know, after all, when the Beatles came out to greet the world, they greeted it with ‚Well she was just seventeen – you know what I mean‘. But when Ween came out to greet it, all these stupid nitwits could offer it was ‚You fucked up! You bitch – you really fucked up!'“ What other reasons would you need, then?“, bezugnehmend auf die ersten Zeilen des Openers ihres Debutalbums. Die anderen sehen „Ween“ als reine Klamauk-Truppe mit pathologischem Hang zum Herrenwitz; als Band, die zwar gut imitieren, kopieren und bestenfalls zitieren kann, die aber nie innovativ ist. Die Wahrheit liegt m. E. irgendwo in der Mitte. Ihr Werk wird oft als „eklektisch“ bezeichnet, was laut „Wiktionary“-Eintrag sowohl „aus etwas Vorhandenem zusammengestellt, gesammelt“ als auch „imitierend, nachahmend, unschöpferisch“ bedeutet, was in meinen Augen den Nagel auf den Kopf trifft. „Ween“ wird (z. B. bei „Wikipedia„) zwar als Alternative-Rockband gelistet, lässt sich stilistisch aber nicht wirklich in eine Schublade stecken; es gibt kaum ein Genre der populären Musik, dem sich Freeman und Melchiondo nicht mit mindestens einem Lied gewidmet hätten (mit „12 Golden Country Greats“ von 1996 haben sie sogar ein ganzes, zumindest in musikalischer Hinsicht veritables Country- und Western-Album veröffentlicht), nicht immer, aber erstaunlich oft mit hörenswertem Ergebnis. „Chocolate and cheese“ ist dabei, meiner bescheidenen Meinung nach, das Album mit der höchsten „Trefferquote“. „Ween“ kümmern sich grundsätzlich nicht um Dogmen oder um die Erwartungen der Hörer, sie schlüpfen einfach thematisch und musikalisch in die Rolle, die ihrer Ansicht nach am besten zum jeweiligen Song passt, sei es als Brudermörder mit mexikanischem Akzent im Spaghetti-Western-Epos „Buenas Tardes Amigo“, sei es als gekränkter Ex in der deftigen Folk-Ballade „Baby bitch“, und werden somit als Band quasi unsichtbar. Das ist m. E. auch die Krux ihrer letzten 3 Studioalben ab „White pepper“ (2000), wo sie – vermutlichen ihren Fans zuliebe – diese Tarnkappen-Taktik aufgeben und versuchen, wie „Ween“ zu klingen. 2011 erschien im Rahmen der „33⅓“-Serie ein Buch über „Chocolate and cheese“. Dean Ween kommentierte dies einmal folgendermaßen: „I saw someone wrote a book about Chocolate and Cheese, and my son put it in the bathroom. I was reading through it. What people were saying about me and Aaron [Freeman, aka Gene Ween] was that there was all this thought that went into this shit. It’s total bullshit. We wrote a lot of material—it was good, we knew it was good—we picked our favorite songs and we put them out on the record. That was it. [Laughter.] And that’s been true of every record I’ve made, from the first Ween record to the second Dean Ween record.“ Den Worten des Meisters ist wohl nichts hinzuzufügen. „Ween“ machen keine Hochkultur und es wäre daher müßig, ihr Œuvre mit kulturwissenschaftlichem Eifer zu analysieren. Was mich an „Chocolate and cheese“ heute noch am meisten beeindruckt, ist die Tatsache, wie wenig sich „Ween“ vom damaligen Zeitgeist haben anstecken lassen. Anno 1994 waren Crossover und die Nachwehen des Grunge die maßgeblichen Stilrichtungen (siehe z. B. hier, hier, hier oder hier), und es wäre für die Band ein Leichtes gewesen, ein paar scheppernde Gitarren und/oder Sprechgesang sowie eine Portion „teenage angst“ einzustreuen; stattdessen gibt sie auf dieser Platte lupenreine Popsongs wie „Freedom of ’76“, „Roses are free“ oder „What Deaner was talkin‘ about“ zum Besten. Ich selbst war zu dieser Zeit stets auf der Suche nach immer ausgefalleneren, härteren, krasseren Platten. Meist erfolglos, nur ein paar der Funde seinerzeit sind mir heute noch wichtig. Umso mehr lernte ich „Chocolate and cheese“ zu schätzen, für seine unprätentiösen, einfachen Lieder. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn ich behaupte, das ich durch dieses Album meine damals verlorengegangene Liebe zum klassischen Popsong wiedergefunden habe.