Meine Top 50 | # 1

Ween – Chocolate and cheese (1994)

Wer mein Geschreibsel im sog. Internetz schon etwas länger verfolgt, wird nicht sonderlich überrascht sein, dass eine „Ween“-Platte den Spitzenplatz auf der Liste meiner prägenden Alben belegt. Immerhin habe ich die Band hier schon das ein oder andere Mal lobend erwähnt, auf einer der Erdbeerschorsch-Vorgänger-Webseiten habe ich mich sogar einmal an einer Art Biographie der Gruppe versucht (den Link lasse ich aus Gründen der Peinlichkeits-Prophylaxe lieber weg). Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Plätze 1 bis 3, was den Einfluss auf meine musik-geschmackliche Entwicklung anbelangt, sehr dicht beisammenliegen, abhängig von Stimmung und Tagesform kann es durchaus passieren, dass auch mal eines der beiden anderen Alben auf den ersten Platz rotiert. Die 3 Bestplatzierten meiner Top 50 haben darüber hinaus weitere Gemeinsamkeiten: a.) ich kenne die Diskografien der jeweiligen Bands ziemlich gut bzw. besser als die anderer Künstler, b.) die von mir präferierten Alben waren chronologisch die 3. bzw. 4. Veröffentlichung der jeweiligen Gruppe und waren c.) die ersten Platten, die ich von den jeweiligen Bands gehört habe. Keine Ahnung, ob das Zufall ist oder ob diese Konstellation einen Faktor für die Nachhaltigkeit der Prägung meines Musikgeschmacks darstellt. Ähnlich wie etwa die „Pixies“, kennt man „Ween“ als Otto-Normal-Musikkonsument – wenn überhaupt – dann nur über Umwege. So sind Songs der Band z. B. auf den Soundtracks von „Ey Mann, wo is’ mein Auto?“ (2000), „Lammbock“ (2001) oder „Herr Lehmann“ (2003) vertreten. Wir älteren Semester kennen Musikvideos von „Ween“ aus verschiedenen „Beavis & Butthead“-Folgen, während die Jungen und Junggebliebenen 2 ihrer Lieder bei „Spongebob Schwammkopf“ hören können (das 1997 erschienene „Ween“-Album „The mollusk“ soll „Spongebob“-Erfinder Steve Hillenburg übrigens nachhaltig inspiriert haben). Wie ich damals, irgendwann Mitte der Neunziger Jahre, auf „Chocolate and cheese“ gestoßen bin, kann ich heute nicht mehr zweifelsfrei rekonstruieren, möglicherweise war die ansprechenden Cover-Gestaltung ein Kaufargument. Im Gegensatz zu „Gimmick“ und „Bossanova“ war die Platte für mich zum damaligen Zeitpunkt jedoch kein musikalisches Erweckungserlebnis; ich fand sie anfangs vermutlich einfach unterhaltsam, meine besondere Beziehung zu der Scheibe hat sich erst im Laufe der Zeit entwickelt. Nun aber erst mal ein paar Fakten zur Band: Gene und Dean Ween, die mit bürgerlichen Namen Aaron Freeman und Mickey Melchiondo heißen, haben sich Mitte der 80ger Jahre in der Schule kennengelernt und bald ihre gemeinsame Leidenschaft fürs Musizieren entdeckt. Die auf einem 4-Spur-Rekorder aufgenommenen Lieder veröffentlichten die beiden jungen Herren zunächst im Selbstverlag auf Musik-Kassette, daneben absolvierten sie Live-Auftritte als Duo (Schlagzeug und Bass kamen aus der Konserve) und brachten es so zu regionaler Popularität, bis sie schließlich vom Independent-Label „Twin/Tone“ entdeckt wurden und einen Plattenvertrag bekamen. 1990 erschien ihr Debüt „GodWeenSatan: The Oneness“. Ihr 3. Album „Pure guava“ (1992) erschien dann bereits beim Major-Label „Elektra“, wo sie 4 weitere Longplayer veröffentlichten, ehe sie 2003 mit „Quebec“ wieder zu einer unabhängigen Plattenfirma wechselten. Ihr bislang letztes Studio-Album „La Cucaracha“ erschien 2007. Seitdem ist die Band – abzüglich einer temporären Trennung zwischen 2011 und 2015 – regelmäßig auf Tournee und beglückt ihre treuen Fans mit einem Best-of-Programm; ihr Heimatland verlassen die beiden Amis dabei jedoch maximal für einen Abstecher nach Kanada. An „Ween“ und ihrer Musik scheiden sich die Geister. Die einen halten Gene und Dean Ween für musikalische Genies, die es wie nur wenige andere verstehen, im Sinne des Dekonstruktivismus aus Vorhandenem Neues zu erschaffen. Zu ihnen gehört z. B. der Musik-Blogger George Starostin, der sich u. a. fragt, warum „Ween“ nicht so berühmt sind wie die „Beatles“ und die Antwort gleich mitliefert: „Well, you know, after all, when the Beatles came out to greet the world, they greeted it with ‚Well she was just seventeen – you know what I mean‘. But when Ween came out to greet it, all these stupid nitwits could offer it was ‚You fucked up! You bitch – you really fucked up!'“ What other reasons would you need, then?“, bezugnehmend auf die ersten Zeilen des Openers ihres Debutalbums. Die anderen sehen „Ween“ als reine Klamauk-Truppe mit pathologischem Hang zum Herrenwitz; als Band, die zwar gut imitieren, kopieren und bestenfalls zitieren kann, die aber nie innovativ ist. Die Wahrheit liegt m. E. irgendwo in der Mitte. Ihr Werk wird oft als „eklektisch“ bezeichnet, was laut „Wiktionary“-Eintrag sowohl „aus etwas Vorhandenem zusammengestellt, gesammelt“ als auch „imitierend, nachahmend, unschöpferisch“ bedeutet, was in meinen Augen den Nagel auf den Kopf trifft. „Ween“ wird (z. B. bei „Wikipedia„) zwar als Alternative-Rockband gelistet, lässt sich stilistisch aber nicht wirklich in eine Schublade stecken; es gibt kaum ein Genre der populären Musik, dem sich Freeman und Melchiondo nicht mit mindestens einem Lied gewidmet hätten (mit „12 Golden Country Greats“ von 1996 haben sie sogar ein ganzes, zumindest in musikalischer Hinsicht veritables Country- und Western-Album veröffentlicht), nicht immer, aber erstaunlich oft mit hörenswertem Ergebnis. „Chocolate and cheese“ ist dabei, meiner bescheidenen Meinung nach, das Album mit der höchsten „Trefferquote“. „Ween“ kümmern sich grundsätzlich nicht um Dogmen oder um die Erwartungen der Hörer, sie schlüpfen einfach thematisch und musikalisch in die Rolle, die ihrer Ansicht nach am besten zum jeweiligen Song passt, sei es als Brudermörder mit mexikanischem Akzent im Spaghetti-Western-Epos „Buenas Tardes Amigo“, sei es als gekränkter Ex in der deftigen Folk-Ballade „Baby bitch“, und werden somit als Band quasi unsichtbar. Das ist m. E. auch die Krux ihrer letzten 3 Studioalben ab „White pepper“ (2000), wo sie – vermutlichen ihren Fans zuliebe – diese Tarnkappen-Taktik aufgeben und versuchen, wie „Ween“ zu klingen. 2011 erschien im Rahmen der „33⅓“-Serie ein Buch über „Chocolate and cheese“. Dean Ween kommentierte dies einmal folgendermaßen: „I saw someone wrote a book about Chocolate and Cheese, and my son put it in the bathroom. I was reading through it. What people were saying about me and Aaron [Freeman, aka Gene Ween] was that there was all this thought that went into this shit. It’s total bullshit. We wrote a lot of material—it was good, we knew it was good—we picked our favorite songs and we put them out on the record. That was it. [Laughter.] And that’s been true of every record I’ve made, from the first Ween record to the second Dean Ween record.“ Den Worten des Meisters ist wohl nichts hinzuzufügen. „Ween“ machen keine Hochkultur und es wäre daher müßig, ihr Œuvre mit kulturwissenschaftlichem Eifer zu analysieren. Was mich an „Chocolate and cheese“ heute noch am meisten beeindruckt, ist die Tatsache, wie wenig sich „Ween“ vom damaligen Zeitgeist haben anstecken lassen. Anno 1994 waren Crossover und die Nachwehen des Grunge die maßgeblichen Stilrichtungen (siehe z. B. hier, hier, hier oder hier), und es wäre für die Band ein Leichtes gewesen, ein paar scheppernde Gitarren und/oder Sprechgesang sowie eine Portion „teenage angst“ einzustreuen; stattdessen gibt sie auf dieser Platte lupenreine Popsongs wie „Freedom of ’76“, „Roses are free“ oder „What Deaner was talkin‘ about“ zum Besten. Ich selbst war zu dieser Zeit stets auf der Suche nach immer ausgefalleneren, härteren, krasseren Platten. Meist erfolglos, nur ein paar der Funde seinerzeit sind mir heute noch wichtig. Umso mehr lernte ich „Chocolate and cheese“ zu schätzen, für seine unprätentiösen, einfachen Lieder. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn ich behaupte, das ich durch dieses Album meine damals verlorengegangene Liebe zum klassischen Popsong wiedergefunden habe.

Meine Top 50 | # 2

Pixies – Bossanova (1990)

Die Tatsache, dass es ausgerechnet der von vielen Fans und Kritikern ungeliebte dritte Longplayer der „Pixies“ in meine Bestenliste geschafft hat, noch dazu auf den zweiten Platz, dürfte für all diejenigen, die meine Top 50 bis hierher bereits argwöhnisch verfolgt haben, das finale, entscheidende Indiz dafür sein, dass ich – um eine schöne Redensart mal ein bisschen abzuwandeln – meinen Musikgeschmack im Lotto gewonnen habe bzw. dürfte der letzte Sargnagel für meinen Leumund als halbwegs kompetenter Musikkenner sein. Aber der Reihe nach… Bevor ich versuchen werde, meine besondere Beziehung zu „Bossanova“ zu erläutern, zunächst ein paar Daten und Fakten zu den „Pixies“ [und bevor es RICHTIG losgeht, noch schnell ein kurzer Einschub: der Name „Pixies“ erinnert mich immer sowohl an „Fixies“ (ehemalige Windelmarke) als auch an die „Puhdys“ (ehemalige Ost-Rock-Band), eine überaus uncoole Kombination also, was wohl der Grund dafür ist, warum ich den Bandnamen nur mit einem gewissen Unbehagen laut aussprechen kann]. Die „dumme kleine Band aus Boston“ (Eigenwerbung) erschien im Herbst 1987 mit der EP „Come on pilgrim“ auf der Bildfläche. Mit der kultigen Plattenfirma „4AD“ im Rücken und ihrer eigenwilligen Mischung aus Punk, Surf-Musik, Folk und wunderlichen Texten, spielte sie sich schnell in die Herzen v. a. der britischen Indie-Rock-Fans. Nur knapp ein halbes Jahr später erschien der erste Longplayer „Surfer Rosa“ (1988), mit dem die „Pixies“ ihre Popularität weiter steigerten, ehe sie 1989 mit „Doolittle“ endgültig zu Publikumslieblingen der Alternative-Rock-Szene und Darlings der Musikpresse avancierten. Die beiden Alben (die 8 Songs der Debüt-EP wurden ab 1988 auf die CD-Version von „Surfer Rosa“ draufgepackt, das Ganze firmiert als „Surfer Rosa & Come on pilgrim“) gelten heute als Klassiker der späten 80ger Jahre, beide sind z. B. bei den „500 Greatest albums of all time“ des „Rolling Stone“ vertreten. Anfang 1990, nachdem die 3 männlichen Bandmitglieder nach Los Angeles umgezogen waren, traf sich das Quartett um Sänger Black Francis wieder im Studio, um einen Nachfolger zu produzieren. Ich war zu dieser Zeit 16 Jahre alt. Als Heranwachsender dieses Alters ist man neben Zahnspange-Tragen und Pickel-Ausdrücken v. a. damit beschäftigt, einen eigenen Stil zu entwickeln, sein Profil zu schärfen. Man ist dabei hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis nach Individualität auf der einen und Zugehörigkeit auf der anderen Seite. Ein wichtiges Kriterium ist dabei, welche Filme man sich anschaut, welche Bücher man liest und natürlich welche Musik man hört. Speziell bei Letzterem wird einem ja neben dem eigentlichen Produktkern, der Musik, i. d. R. noch ein kompletter Lifestyle inkl. Dresscode mitgeliefert, wenn man sich also kulturell einsortiert hatte, erledigten sich Fragen wie „Was soll ich anziehen?“ und „Wie soll ich mir die Haare machen?“ ganz von alleine. Sein Ziel in punkto Stil-Findung hatte man erreicht, wenn man einerseits mit Gleichgesinnten eine möglichst gute Zeit hatte und andererseits die Erwachsenen, vornehmlich die Eltern, möglichst umfassend schockieren konnte („Was ist denn das für eine schreckliche Musik!?“). Damals gab es u. a. die Popper, die Mos(c)her, die Punks, die Gruftis oder die Techno-Fuzzis (zu dieser Zeit rollte die House- bzw. Techno-Welle über die fränkische Provinz hinweg, und es gab nicht wenige, die sich am Wochenende Bauarbeiterwesten überwarfen und auf Rave-Partys unterwegs waren). Ich konnte und wollte mich damals allerdings nicht so recht mit einer der vorgenannten Gruppen identifizieren. Ich kann mich noch gut an eine Busfahrt von Frankreich nach Deutschland erinnern, bei der das Vehikel etwa paritätisch mit Heavy-Metal-Fans und Jazz/Funk-Anhängern besetzt war. Jede Fraktion durfte abwechselnd für jeweils 1 Stunde das Musikprogramm bestimmen, und die Musik der einen Fraktion wurde von der jeweils anderen Fraktion natürlich hämisch kommentiert. Wäre es zu Handgreiflichkeiten gekommen, hätte ich allerdings nicht gewusst, welche der beiden Fraktionen ich tatkräftig unterstützt hätte. Die Heavy-Metal-Szene war mir von jeher suspekt, und das Fusion-Gedudel war mir eindeutig zu dudelig. Ich hörte damals das, was die meisten meiner Kumpels hörten, also v. a. Deutsch-Rock à la Westernhagen, Grönemeyer und „BAP“, daneben Rockmusik für Erwachsene, z. B. in Form der „Dire Straits„, Bruce Springsteen, Peter Gabriel und „Genesis“ (also zahlreiche alte Bekannte aus meinen Top 50), zudem vieles von dem, was bei „Schlager der Woche“ (Hitparade von Bayern 3) vertreten war. Natürlich war ich stets auf der Suche nach aufregenderer, altersgerechterer Musik; „Faith no more“ oder „Living Colour“, also Funk-Metal i. w. S. war damals cool und hip und hatte mein Interesse geweckt. Irgendwann im Herbst des Jahres 1990 muss ich von der Existenz von „Bossanova“ erfahren haben (vermutlich durch die Rezension in einer Musikzeitschrift). Wie es der Zufall wollte, war das Album beim „Deutschen Bücherbund“, bei dem mein Vater Mitglied war, im Angebot, und da man dort einmal pro Quartal etwas bestellen musste, um nicht kostenpflichtig irgendeine „Empfehlung“ geschickt zu bekommen, bestellte ich mir die CD. Kennen Sie das Gefühl, wenn man z. B. beim Hosenkauf in ein Beinkleid schlüpft, und dieses sich anfühlt wie angegossen bzw. von Meisterhand maßgeschneidert? So fühlte sich für mich „Bossanova“ an, wie eine Platte, die nur darauf gewartet hatte, von mir entdeckt zu werden; genau nach meinen Geschmack, perfekt ausbalanciert zwischen Wohlklang und Widerspenstigkeit. War mir manches von dem, was bei mir damals im Plattenschrank stand, insgeheim zu brav und bieder, war mir vieles, was ich zur Erweiterung meines musikalischen Horizonts jenseits des Mainstreams austestete, (noch) zu wild und krass. Die „Pixies“ jedoch waren genau mein Ding, auch optisch hatte die Gruppe – auf den Fotos im Album-Inlay posieren die Bandmitglieder freundlich dreinblickend mit sachdienlicher Garderobe und 08/15-Frisuren – ein gewisses Identifikationspotential und mit Bassistin Kim Deal auch ein Objekt juveniler Schwärmerei. Dass sich die Band nicht die Bohne um in der Musikindustrie gängige Konventionen scherte (ihre Abneigung gegen Musikvideos etwa manifestiert sich im verhunzten Playback-Gesang im Video zur „Doolittle“-Single „Here comes your man“ und in der lieblosen Farce, die sie für „Velouria“ filmen ließen), finde ich heute zwar eher albern, seinerzeit fand ich das allerdings überaus cool und sexy. An den Songs von „Bossanova“ hingegen habe ich bis heute nichts zu bemängeln. Das Instrumental „Cecilia Ann“ (das Original der „Surftones“ ist übrigens keine Surf-Klassiker aus den 60gern sondern wurde erst im Jahr 1989 aufgenommen) eröffnet den Liederreigen, setzt den Ton für die folgenden 13 Stücke und gibt die Stimmung dieser Platte vor, die irgendwo zwischen Beach-Party und Death-Valley-Rundfahrt angesiedelt ist, also in höchstem Maße kalifornisch. Die Platte hat – im positiven Sinn – keine Highlights, die Titel liegen auf hohem Niveau qualitativ allesamt eng beieinander (der einzige kleine Durchhänger ist „Blown Away“, der mit einer Laufzeit von 2:20 Minuten aber erfreulich schnell vorüber ist). Dass keiner der Songs die überragende Strahlkraft von „Gigantic“, „Where is my mind“ (beide „Surfer Rosa“), „Debaser“ oder „Monkey gone to heaven“ (beide „Doolittle“) hat, ist womöglich einer der Gründe, warum „Bossanova“ von Kennern vergleichsweise weniger geschätzt wird. Dafür haben die Vorgänger nach meinem Dafürhalten einen höheren Anteil an schwächeren Songs („La la love you“ beispielsweise ist ein bilderbuchmäßiger Abtörner und verleidet mir die Freude an „Doolittle“ nicht unerheblich). Ich denke daher, dass ich „Bossanova“ genau so lieben würde, wenn ich es erst nach den beiden anderen Alben erstmals gehört hätte. Für meine weitere musikalische Entwicklung war diese Platte jedenfalls entscheidend, daher ist sie unangefochtener Vize-Meister der Herzen in meinen Top 50.

Meine Top 50 | # 3

Barkmarket – Gimmick (1993)

Eine von mir höchstpersönlich durchgeführte Google-Suche hat ergeben, dass beim populären Audio-Streaming-Dienst „Spotify“ derzeit rund 80 Millionen Tracks verfügbar sind (Stand: September 2022). Keine Ahnung, was alles unter der Bezeichnung „Track“ subsumiert wird, aber selbst wenn man davon ausgeht, dass viele dieser Tracks keine Songs im klassischen Sinne sind (sondern z. B. Kapitel in einem Hörspiel, Podcast-Folgen etc.) und man sehr großzügig die Hälfte abzieht, bleiben 40 Millionen „richtige“ Songs übrig. Nimmt man nun an, dass jeder dieser 40 Millionen Songs im Schnitt 3 Minuten lang ist, würde ein Mensch über 200 Jahre benötigen, um sich alle diese Titel nacheinander anzuhören; Schlafen oder andere (Pinkel-) Pausen nicht mit eingerechnet! Es gibt also einerseits seeeeehr viel Musik da draußen (es gibt obendrein ja auch noch Musik abseits von „Spotify“), andererseits hat ein einzelnes Individuum jedoch vergleichsweise wenig Zeit, um sich diese Musik auch umfassend anzuhören. Als musikinteressierter Mensch ist man daher auf Werkzeuge angewiesen, die einem aus dieser schier unüberschaubaren Menge DIE Musik herausfiltern, die es sich lohnt, anzuhören. Heutzutage sorgen Algorithmen dafür, dass uns auf Basis der Songs, die wir angehört und/oder geliked haben, laufend Vorschläge à la „Musik, die dir gefallen könnte“ gemacht werden, was m. E. hin und wieder ganz nützlich ist. Früher, in grauer Vorzeit musste man darauf vertrauen, dass die Musik-Redakteure der Radio- oder Fernsehsender gute Filter-Vorarbeit leisten und in ihren Sendungen Musik spielen, die einen dann animierte, die eine oder andere Scheibe selber mal genauer unter die Lupe zu nehmen. In der Regel hatte man seine Stamm-Sender oder -Sendungen, denen man hier sein Vertrauen schenkte. Auch Musikzeitschriften waren in dieser Hinsicht hilfreich, da sie ein bisschen Struktur in den Dschungel der Neuerscheinungen brachten, und man überdies oft etwas über die jeweiligen Künstler in Erfahrung bringen konnte. Ratschläge und Hinweise aus dem musikaffinen Freundes- und Bekanntenkreis nahm man natürlich ebenfalls gerne und dankend an. Trotzdem blieb und bleibt für Otto Normalverbraucher der größte Teil dessen, was an Musik auf dieser Erde kreucht und fleucht, terra incognita. Lachen Sie mich ruhig aus, aber ich habe z. B. noch nie ein Album von David Bowie angehört. „Electric Ladyland“ von Jimi Hendrix? Fehlanzeige! „The Wall“ von Pink Floyd“? Njet! Und außer einer obskuren Best-of-Sammlung kenne ich kein einziges Album der „Rolling Stones“ (natürlich kenne ich die landläufig bekannten Klassiker der vorgenannten Künstler, aber es hat sich bislang nicht ergeben, dass ich mich näher mit ihnen befasse). Von den meisten hochgejubelten „must-hears“ der letzten 20 Jahre mal ganz zu schweigen. Neben Zeit ist natürlich auch Geld ein limitierender Faktor, der verhindert, jedes von Dritten für gut befundene Album anzuhören bzw. zu erwerben. Eine Bestenliste, wie diese hier, ist also schon alleine deshalb überaus subjektiv, weil sie nur den verschwindend kleinen Anteil am Musik-Gesamtangebot abbilden kann, den der Bestenlisten-Ersteller auch tatsächlich gehört hat. Wahrscheinlich gibt es irgendwo da draußen ein Album, das ich bislang noch nicht kenne, das zu meinem Musikgeschmack wie der sprichwörtliche Arsch auf den nicht minder sprichwörtlichen Eimer passt. Ob es zu einem annähernd perfekten Arsch-Eimer-Match kommt, ist also letztlich reine Glücksache. Bei „Gimmick“, dem 4. Longplayer des New Yorker Trios „Barkmarket“, mischte Glücksgöttin Fortuna seinerzeit offenbar kräftig mit. Die Platte war nämlich durch mein theoretisch engmaschiges Filternetz geschlüpft; erst durch eine sehr enthusiastische Rezension in der deutschen Ausgabe des eigentlich nicht auf Musik spezialisierten österreichischen Männer-Lifestyle-Magazins „Wiener“, das ich zu der Zeit sporadisch gelesen habe, bin ich auf ihr Erscheinen aufmerksam geworden und habe sie mir daraufhin ohne groß nachzudenken zugelegt. In dem Artikel wurde prognostiziert, dass es sich bei diesem Album um „das nächste große Ding“ handele. Wenn der „Wiener“, der sich ja v. a. die Früherkennung von Trends auf die Fahnen geschrieben hatte, mit all seinen Vorhersagen so drastisch daneben lag wie im Falle von „Barkmarket“, dann nimmt es nicht wunder, dass zumindest der deutsche Ableger bereits ein Jahr später seinen Betrieb eingestellt hat. „Gimmick“ ist nämlich sicher die mit Abstand obskurste und gemeinhin am wenigsten bekannte Platte in meinen Top 50. An die erste In-Ohrenscheinnahme dieses Albums kann ich mich noch gut erinnern: ich lag mit Kopfhörern im Bett meines spärlich beleuchteten Kinder- bzw. Jugend-Zimmers, und es fühlte sich an, wie wenn man von einem Ungetüm ungekaut verschlungen, einmal durch dessen Verdauungstrakt geschickt und nach rund 45 Minuten fasziniert, irritiert und durchgeschwitzt wieder ausgeschieden wird. Etwas vergleichbar Aufregendes hatte ich bis dahin nicht gehört. Obschon es stellenweise Ähnlichkeiten zu „Fugazi„, „Jesus Lizard“, „Soundgarden“ oder Captain Beefheart gibt, ist „Gimmick“ einzigartig: brachial, nervös, psychotisch, komplex und nichtsdestotrotz groovy und voller Hooklines. Auch der Sound ist beeindruckend; Sänger und Gitarrist Dave Sardy, der sich nach der Auflösung von „Barkmarket“ im Jahr 1997 voll auf seinen damaligen Nebenjob als Mixer und Produzent konzentrierte und in dieser Funktion für zahllose Alternative-Rockbands, aber auch Größen wie „Oasis“ oder „The Who“ an den Reglern saß, verpasste dem Album einen druckvollen und dennoch transparenten Klang. Besonders den Gitarren-Sound finde ich grandios (nachzuhören z. B. bei den letzten 50 Sekunden von „Redundant“), auch wenn Sardys Bandkollegen John Nowlin (Bass) und Rock Savage (Schlagzeug) beklagten, dass ihre Instrumente im Mix oftmals kaum zu hören sind. Ob es ein Fluch oder ein Segen war, dass ich auf „Gimmick“ gestoßen bin, kann ich bis zum heutigen Tag nicht mit Gewissheit sagen. In punkto „Intensität“ hat die Scheibe die Messlatte jedenfalls derart hoch gelegt, dass fast alle Platten, die ich danach gehört habe, und die großspurig als intensiv angepriesen wurden, im Vergleich halbgar, einfallslos und bieder klangen. Wer weiß, wo mein musikalischer Weg ohne „Gimmick“ hingeführt hätte, am Ende wäre ich noch Death-Metal-Hörer geworden. Unabhängig davon ist das Album für mich auch heute noch ein Schatz, den die Tatsache, dass weltweit nicht allzu viele von seiner Existenz wissen, sogar noch wertvoller macht.

Meine Top 50 | # 4

Genesis – Nursery cryme (1971)

„Genesis“… da denken die meisten Leute heutzutage v. a. an Phil Collins; und denken dann schnell an etwas anderes, weil ihnen bei dem Gedanken an Phil Collins unwohl wird. Ansonsten denkt man bei „Genesis“ evtl. noch an Wohlfühl-Rock für den gesetzteren Herren und diverse Comeback-Tourneen, bei denen das Durchschnittsalter der Konzertbesucher im Schnitt jenseits der 60 liegt. Auch wenn man es heutzutage kaum noch glauben mag: Anfang der 80ger waren „Genesis“ durchaus eine Band, die man auch als anspruchsvoller Musik-Konsument hören konnte, ohne gleich ausgelacht zu werden. Das Trio Tony Banks, Phil Collins und Mike Rutherford erfreute sich nicht nur in der breiten Öffentlichkeit sondern auch bei vielen Kritikern großer Beliebtheit. Phil Collins hatte zu dieser Zeit zwar bereits 2 Solo-Alben herausgebracht, war allerdings noch nicht so omnipräsent wie gegen Ende des Jahrzehnts. Selbst sein Album „No jacket required“ (1985) wurde von der Musikpresse noch größtenteils wohlwollend aufgenommen. Grenzwertig wurde es für mich persönlich erst mit dem „Buster“-Soundtrack von 1988, zu dem Collins das schmalzige „A groovy kind of love“ beisteuerte, das andeutete, welche Richtung er auf dem folgenden Solo-Album „…But Seriously“ (1989) einschlagen wird. Von da an ging es dann m. E. auch mit Collins‘ Reputation bei den Scharfrichtern des guten Geschmacks langsam aber sicher bergab. Es gibt ja Leute, die in Phil Collins das personifizierte Übel der Musikindustrie sehen, einen seelenlosen kleinen Kerl, der am Fließband Opium fürs Volk in Form von seichtem Pop-Einerlei produziert. Ich bin zwar kein Phil-Collins-Fan, kann die Animositäten ihm gegenüber allerdings nicht so recht nachvollziehen. Mir fallen aus dem Stegreif etliche andere Künstler ein, die trivialere und unambitioniertere Musik als er herausbringen; aber Phil-Collins-Bashing ist halt immer ein Garant für Applaus. Ich halte ihn für einen passablen Sänger und Entertainer, für einen überschätzten Songwriter und unterschätzten Schlagzeuger. Ich denke aber, dass jemand, der einer der erfolgreichsten Musiker des 20. Jahrhunderts ist, es sicher verkraften kann, nicht der Darling des Feuilletons zu sein. Nach diesem kleinen Exkurs im Dienste der Phil-Collins-Rehabilitierung nun aber zurück zum Thema „Genesis“ und zurück in die Mitte der 80ger Jahre: auch wir jungen, anspruchsvollen Musik-Konsumenten zwischen 12 und 16, die mit Heavy Metal nicht so recht was anfangen konnten und trotzdem rockigen Klängen (oder das, was für seinerzeit für rockige Klänge hielten…) nicht abgeneigt waren, fanden das damals aktuelle „Genesis“-Album “Invisible touch” (1986) prima. Es war zwar stromlinienförmig und bisweilen banal, aber im Vergleich zur Konkurrenz doch vielschichtiger und komplexer (z. B. “Domino”). Die für ihre exquisite Auswahl bekannte und bereits an anderer Stelle gelobte örtliche Kreisbücherei hatte Anfang der Neunziger u. a. “Foxtrot” (1972), eines der Frühwerke der Band, noch mit Peter Gabriel am Mikrofon, im Programm. In der Hoffnung auf eine 70ger-Jahre-Version der beliebten „Genesis“-Formel, habe ich mir die CD ausgeliehen, war mit Songs wie dem über 8-minütigen „Get ’em out by Friday“ und dem über 20-minütigen Klassiker „Supper’s ready“ jedoch offensichtlich überfordert und brachte das gute Stück zerknirscht vorzeitig zurück, da ich damit leider so gar nichts anfangen konnte. Meine Progressive-Rock-Phase, die v. a. aus dem Studium der Werke von „Genesis“ und „Yes“ bestand, sollte erst rund 20 Jahre später anbrechen. Ich bekam seinerzeit “Selling England by the pound” (1973) in die Finger, war begeistert und arbeitete mich dann erst rückwärts bis “Trespass” (1970) und dann vorwärts bis “Genesis” (1983) durch. Das musikalische Werk der Band lässt sich dabei grob in 2 Epochen einteilen: die progressive Phase, die etwa bis „Wind & Wuthering“ (1976) reichte und die eher poppige Phase ab „…And then there were three…“ (1978), als man nach dem Weggang von Gitarrist Steve Hackett erstmals ein Album in der klassischen Dreierbesetzung einspielte. Diese Dichotomie spiegelt sich auch bei den „Genesis“-Fans wider. Die eine (wesentlich kleinere) Fraktion duldet nur Peter Gabriel als Frontmann und Sänger und zieht pikiert die Nase kraus bei allem, was die Band nach „The lamb lies down on broadway“ (1974) – dem letzten Album mit Gabriel – veröffentlicht hat. Die andere Fraktion bevorzugt die stadion-füllende Hit-Maschine, in die sich „Genesis“ Ende der 70ger Jahre verwandelt hatte, und sieht das, was die Band auf den ersten 8 Alben fabriziert hat, eher als „Jugendsünden“ (mit Ausnahme von Songs wie „Dance on a volcano“, „The lamb lies down on broadway“, „The musical box“, „Firth of fifth“ oder „I know what I like“, die aus dieser Zeit stammen, die „Genesis“ aber auch noch auf ihren späteren Tourneen, meist in Medley-Form, zum Besten gegeben haben – nachzuhören auf dem Live-Album „The way we walk, vol. 2 (The longs)“ von 1993). Ich persönlich bevorzuge das frühe „Genesis“-Werk, mein Lieblingslied “Dancing with the moonlit knight” und alle anderen Favoriten entstanden zwischen 1970 und 1976, allerdings sind auch auf den späteren Veröffentlichungen Stücke drauf, die nicht von Pappe sind. Obwohl ich Musik mit viel Schnickschnack drum herum eher unsexy finde und z. B. Musicals verabscheue, finde ich die – besonders von Gabriel eingebrachte – theatralische Komponente überaus reizvoll. Ich sehe das mit den 2 angeblich grundverschiedenen Phasen der Band aber ohnehin nicht so eng: natürlich haben Besetzungsänderungen mal mehr (im Falle von Gabriel) mal weniger (im Falle von Hackett) zu Buche geschlagen, was Stil und Sound der Band anbelangt. Insgesamt aber verlief die musikalische Entwicklung von „Genesis“ m. E. relativ organisch: während der 70ger Jahre waren die Herren in ihren Zwanzigern und entsprechend experimentierfreudig, ihr Output in den 80gern hingegen war routinierter, ausgereifter und mehr „auf den Punkt“ – eben auch altersgemäß – aber immer noch im Kern progressiv. Ich habe lange überlegt, welches Album ich an dieser Stelle präsentieren soll. “Selling England by the pound” wäre die naheliegendste Wahl gewesen, letztendlich habe ich mich dann allerdings für “Nursery Cryme“ entschieden. Phil Collins und Steve Hackett waren damals neu rekrutiert worden und sorgen für eine hörbare Verbesserung des musikalischen Niveaus. Die Platte hat eine jugendliche Frische wie keine ihrer Nachfolger (die 5 Bandmitglieder waren damals alle maximal 21 Jahre alt), und die britische Kauzigkeit ist auf keinem anderen Werk dermaßen ausgeprägt wie hier. Besonders die von Gabriel verfassten, teils schwarz-humorigen Texte oder das Albumcover, auf dem eine Krankenschwester Croquet mit abgetrennten Köpfen spielt, haben einen Charme, dem ich mich schwer entziehen kann, und der sich auch musikalisch in Songs wie „The return of the giant hogweed“ und dem irrwitzigen „Harold the Barrel“ manifestiert. Auch wenn mich „Seven Stones“ und „Harlequin“ nicht unbedingt vom Hocker reißen, sind die letzten 100 Sekunden von “The musical box” allein doch Grund genug für Platz 4 in meinen Top 50.

Meine Top 50 | # 5

Faith No More – Angel dust (1992)

Musikalische Vorlieben respektive Musikgeschmäcker sind vermutlich ähnlich individuell wie Fingerabdrücke. Herr A mag die „Rolling Stones“ und findet die „Beatles“ doof, bei Frau B ist es umgekehrt, Herr C wiederum findet beides schlimm und schwört stattdessen auf „The Who“. Frau D hört nur Klassik, meidet aber Mozart, Herr E, der nur Liszt mag, hört ansonsten gerne Deutsch-Rap, Frau F hingegen mag am liebsten Jazz und steht zudem auf Heavy Metal. Wahrscheinlich werden wir homines sapientes mit einer bestimmten, genetisch bedingten Veranlagung geboren, die festlegt, welche Klänge und Klangfarben wir mögen. Auf dieser Basis entscheiden wir im Laufe der Zeit durch bewusstes und unbewusstes Hören von Musik, welche Art von Liedern uns gefällt und welche nicht. Andernorts habe ich das Bild vom kleinen Mann im Kopf bemüht, der das Gehörte mit einem „Daumen hoch“ oder einem „Daumen runter“ etikettiert und ablegt. Entscheidend ist daher zunächst einmal, welche Musik der kleine Mann so tagein, tagaus zu hören bekommt. Jemand wie ich, der in seiner Kindheit im familiären Umfeld v. a. Mainstream-Radio, Volksmusik und Schlager gehört hat, wird so zunächst einmal andere Präferenzen entwickeln als jemand, der zu Hause nur klassische Musik hört. Ab einem gewissen Alter beginnt man dann allmählich, sich von der Musik des Elternhauses zu emanzipieren und sucht neuen Input, wobei man sich hier v. a. an seiner Peergroup orientiert. Ich stelle mir so einen Musikgeschmack ja wie ein Mosaik vor, auf dem die Musik, mit der wir konfrontiert werden, in Form von Teilchen unterschiedlicher Größe ihre Spuren hinterlässt. Die Alben auf den Plätzen 50 bis 6 hatten einen vergleichsweise kleinen (mit höherer Platzierung größer werdenden), aber wichtigen Einfluss auf mein Musikgeschmacks-Mosaik anno 2023. Die Plätze 5 bis 1 sind von ihrer Auswirkung auf das Gesamtbild allerdings ein anderes Kaliber. Ohne diese Platten sähe mein Musikgeschmack heute zweifellos signifikant anders aus. Hier nun also der erste Kandidat in meinen Top 5: „Faith No More“ hatten mit „The real thing“ (1989) einen echten Überraschungs-Coup gelandet. Dies war v. a. der Single „Epic“ zu verdanken, die es Anfang 1990 – dank Rückenwind durch MTV – bis in die Top 10 der US-Billboard-Hot-100 schaffte, was zur Folge hatte, dass das kalifornische Quintett zum Aushängeschild des Rap-Rock bzw. Funk-Metal erkoren wurde – und das, obwohl das Album musikalisch weit mehr zu bieten hatte als nur harten, tanzbaren Rock mit Sprechgesang und insgesamt ziemlich abwechslungsreich war. Jedenfalls rückte die Popularität der Band diese Art von Musik in den Fokus des Mainstream-Publikums. Der mit dem Erfolg einhergehende Ruhm rief jedoch auch Neider, speziell aus der eigenen Szene, auf den Plan; Antony Kiedis von den „Red Hot Chili Peppers“ z. B. beklagte, dass „Faith No More“-Frontman Mike Patton ihm seinen „Style“ geklaut hätte. Diesen Disput trugen die beiden Herren – wahrscheinlich nicht immer ganz ernst gemeint – über Jahre hinweg aus (die Tatsache, dass seine Band 1991 mit „Blood sugar sex magik“ ebenfalls den großen kommerziellen Durchbruch schaffte, dürfte Herrn Kiedis vermutlich milde gestimmt haben). Damals lernte ich „Faith No More“ kennen und schätzen, meine Zuneigung war allerdings nicht ganz so innig wie die zu ihren Genre-Kollegen von „Jane’s Addiction“ oder „Living Colour“. „The real thing“ war zweifelsohne ein starkes Album, nach meinem Dafürhalten allerdings etwas unausgewogen (mir war z. B. „Surprise! You’re Dead!“ damals zu metal-lastig; der Titelsong war mir zu lang und „Underwater love“ und „The morning after“ waren mir zu belanglos). Die Band selbst haderte damit, in die Funk-Metal-Schublade gesteckt zu werden, Bassist Bill Gould bekannte später sogar unverblümt, diese Art von Musik zu verabscheuen. Langer Rede kurzer Sinn: „Faith No More“ standen nun vor der Aufgabe, einen würdigen Nachfolger für ihr Hit-Album abzuliefern und sich dabei selbst treu zu bleiben – ein Unterfangen, an dem schon etliche Bands vor und nach ihnen gescheitert sind. Einige Chronisten sehen in „Angel dust“ eine Art musikalischen Mittelfinger, gerichtet an die eigene Plattenfirma (die in der Tat nicht sonderlich begeistert war, als sie die Aufnahmen erstmals zu hören bekam) und das Mainstream-Publikum. Gut möglich, dass der eine oder andere Fan verprellt wurde, insgesamt aber war „Angel dust“, was die Verkaufszahlen außerhalb der U.S.A anbelangt, sogar erfolgreicher als „The real thing“. Künstlerisch war es m. E. aber auf jeden Fall ein Befreiungsschlag – raus aus dem Funk-Metal-Korsett, zumindest hatte man keinen „Epic“-Abklatsch auf’s Album gepackt – und ein Schritt nach vorne. Ich war hocherfreut, dass die Band nicht nur an die Stärken des Vorgängers anknüpfte, sondern dessen Schwachstellen einfach weggelassen hat. Wenn mich jemand mit vorgehaltener Waffe zwingen würde, irgendetwas an dieser Scheibe zu bemängeln, dann wäre das zum einen „Crack Hitler“ (das ist die einzige Nummer, die ich nicht vermissen würde, wenn sie nicht auf dem Album drauf wäre), zum anderen „Easy“ (das „Commodores“-Cover, das es erst im Nachhinein, nach dem Erfolg als Single, auf die 93ger Neuauflage schaffte), das auf „Angel dust“ irgendwie deplaziert wirkt und v. a. als Rausschmeißer eine denkbar schlechte Wahl ist. Ansonsten ist diese Platte geradezu gespickt mit überragenden Songs. Selbst „Malpractice“ und „Jizzlobber“, 2 objektiv betrachtet „hässliche“ Lieder, machen eine gute Figur, zumal Mike Patton hier eindrucksvoll seine gesanglichen Fertigkeiten unter Beweis stellt. Überhaupt ist der Mann am Mikrofon der entscheidende Faktor für die Strahlkraft dieses Albums. Klang er auf „The real thing“ mit näselndem Gesang stellenweise noch etwas unsouverän, zeigt er auf „Angel dust“ selbstbewusst alle Facetten seiner angeblich 6 Oktaven umfassenden Stimme. Pattons Input, der im Gegensatz zum Vorgänger auch das Songwriting beinhaltete, wirkte sich wohl auch vitalisierend auf seine Band-Kollegen aus; lediglich Gitarrist Jim Martin war mit der musikalischen Richtung, die die Gruppe einschlug, nicht glücklich und verließ die Band nach der anschließenden Tour. „Angel dust“ ist für mich v. a. ein Album der Gegensätze (das spiegelt schon der Kontrast von Cover zu Back-Cover wider): einerseits ist es kühl und abweisend, unemotional und zynisch, andererseits zieht es einen unweigerlich in seinen Bann und überrascht ein ums andere Mal mit plötzlichen Stimmungswechseln, musikalischen Wendungen, attraktiven Hooklines und einer sorgfältig arrangierten Dramaturgie. Obwohl Pomp und Theatralik nicht zu kurz kommen, nimmt sich „Faith No More“ selbst nie allzu ernst und versäumt es nicht, hie und da ein kleines Augenzwinkern einzustreuen. „Angel dust“ ist eine Platte, die für mich auch über 30 Jahre nach ihrer Veröffentlichung nichts von ihrem Reiz verloren hat; sie nimmt einen mit auf einen Trip auf den Grat zwischen Genie und Wahnsinn.

Meine Top 50 | # 6

The Police – Every breath you take: The Singles (1986)

Obwohl die Gründung von „The Police“ (was für ein blöder Name…) auf das Jahr 1977 datiert, ist sie m. E. doch eine typische Band der Achtziger. Dieses Jahrzehnt, die 80ger Jahre des 20. Jahrhunderts, hat allgemein keinen besonders guten Leumund; Historiker und andere Beobachter ziehen argwöhnisch eine Augenbraue hoch, wenn sie an diese Dekade denken. Die Klamotten: zu bunt. Die Frisuren: zu dauerwellig resp. zu viel Haarspray. Die Filme: zu viel Popcorn-Kino. Die Musik: zu belanglos. Ich denke, dem armen Jahrzehnt wird insgesamt unrecht getan, und das sage ich nicht nur der sentimentalen Gefühle wegen, die ich diesem Zeitabschnitt entgegenbringe, weil ich meine Teenagerjahre in den ausgehenden 80gern verleben durfte. Die eigentliche Frage ist doch, ob die 80ger Jahre im Vergleich zu anderen Jahrzehnten wirklich so viel schlimmer waren. Ich äußere jetzt wahrscheinlich eine Minderheitenmeinung, aber ich finde die 70ger in Sachen Musik wesentlich schrecklicher. Die Musikwelt in den 80gern wurde v. a. von 2 Faktoren maßgeblich geprägt. Zum einen von der breiten Verfügbarkeit von Synthesizern, die es den Künstlern ermöglichten, mit relativ überschaubarem finanziellen Aufwand die verschiedensten Klänge zu produzieren. Zum anderen vom zunehmenden Einfluss von MTV und Musikvideos. Musiker und Bands konnten sich ihren Fans und solchen, die es werden sollten, plötzlich in bewegten Bildern präsentieren – Musik wurde so vom reinen Hörerlebnis zum audio-visuellen Spektakel, bei dem derjenige mit den schrillsten Klamotten und der irrwitzigsten Frisur natürlich am meisten Aufmerksamkeit bekam. Wenn es solche einschneidenden Veränderungen und Umbrüche gibt, schießt der eine oder andere bei der Nutzung der neuen Möglichkeiten naturgemäß über das Ziel hinaus. Die „Italo Disco“ („Sabrina“ & Co.) und „Euro Disco“ („Modern Talking“, der ganze Kram von Stock Aitken Waterman) genannten Synthiepop-Varianten kann man wohl bedenkenlos in der Schublade „Übertreibungen und Exzesse“ ablegen. All das ging auch an „The Police“ nicht spurlos vorbei. Nachdem die Band ihre ersten 3 Alben mit den kuriosen Titeln „Outlandos d’amour“ (1978), „Reggatta de blanc“ (1979) und „Zenyattà mondatta“ (1980) noch hauptsächlich als „Power-Trio“ (Gitarre, Bass, Schlagzeug) aufgenommen hatten, fanden auf „Ghost in the machine“ (1981) und dem Schwanengesang der Gruppe „Synchronicity“ (1983) dem Zeitgeist entsprechend vermehrt synthetisch erzeugte Klänge Verwendung, wenngleich diese wesentlich geschmackvoller eingesetzt wurden als bei den vorher genannten Protagonisten. Und während sich die Band auf den Musikvideos für ihre frühen Singles meist irgendwo beim Herumhampeln filmen ließ, nahm man für die Singles zum letzten Album u. a. die Dienste von Godley & Creme in Anspruch, die das durchaus ansehnliche Video zum Hit „Every breath you take“ filmten. Das Album „Every breath you take: The Singles“ fand 1988 den Weg in meine Musiksammlung. Ich hatte mir von einem meiner Cousins verschiedene CDs ausgeliehen und auf Musik-Kassette kopiert, um die brandneue Stereoanlage mit irgendetwas zu füttern. Neben der „Police“-Platte erinnere ich mich an Alben von Whitney Houston, Eros Ramazzotti und „Magnum“, einer dubiosen englischen Hardrock-Band. Während die letztgenannten Aufnahmen irgendwann später mit anderer Musik „überspielt“ wurden (Leer-Kassetten waren schließlich nicht billig), hörte ich die MC mit „Every breath you take: The Singles“ drauf die folgenden Jahre und Jahrzehnte regelmäßig, bis ich sie mangels Tape-Deck irgendwann durch eine digitale Version ersetzten musste, die sich jedoch ebenfalls zu einem Dauerbrenner entwickelt hat. Obwohl nicht wenige Zeitgenossen der Ansicht sind, dass Sting eine ähnliche Nervensäge ist wie Bono von U2, finde ich ihn vergleichsweise sympathisch. Sein 2. Solo-Album „…Nothing like the sun“ z. B. hat mir seinerzeit auch sehr gut gefallen. Eine Band, in der neben dem talentierten Bassisten Sting noch Stewart Copeland (einer meiner Lieblings-Schlagzeuger) und Andy Summers (der unglaublich lange Finger haben muss, wie jeder weiß, der schon mal probiert hat, z. B. „Message in a bottle“ auf der Gitarre nachzuspielen) dabei sind, muss man einfach mögen. Als Fan würde ich mich allerdings nicht bezeichnen, ich wurde z. B. noch nie in Versuchung geführt, mir eine ihrer vorgenannten Studio-Alben anzuhören. Ich vertraue in diesem Punkt auf die Expertise von Mark Prindle, der die Auffassung vertritt, das es für das Verständnis des Gesamtwerks von „The Police“ vollkommen ausreicht, wenn man „Every breath you take: The Singles“ besitzt. Diese Best-of-Platte enthält – annähernd korrekt chronologisch sortiert – fast alle Singles, die die Band im Laufe ihrer Karriere herausgebracht hat. Traditionell gefällt mir die erste Hälfte mit den Songs der ersten 3 Alben besser, klingen diese doch direkter, rockiger und rauher. Aber auch die zweite Hälfte, bestehend aus Liedern von den beiden letzten Longplayern, ist weißgott nicht zu verachten, „King of pain“ ist hier mein Favorit. Ich finde sogar die mehrheitlich wenig goutierte, überarbeitete Version von „Don’t stand so close to me“ recht gut gelungen (die so klingt, als ob sich Peter Gabriel am Original zu schaffen gemacht hätte). „The Police“ schaffen es mit großer Treffsicherheit, trotz des nicht von der Hand zu weisenden Pop-Appeals ihrer Songs, interessant, raffiniert und unkonventionell zu klingen. Rückblickend war dieses Album für mich so eine Art Brücke bzw. Einstiegshilfe in die Welt der Musik abseits des Mainstreams und hat den 6. Platz in meiner Bestenliste daher voll verdient.

Meine Top 50 | # 7

Element of Crime – Weißes Papier (1993)

Bruce Springsteen, Tom Waits, Johnny Cash, Peter Gabriel, Billy Joel, Frank Black und Nick Cave. Diese 7 Zwerge alten, weißen Männer belegen die Plätze 14 bis 8 meiner Top 50. Ich habe mir mal die Mühe gemacht, das – Stand 2022 – aktuelle Durchschnittsalter dieser Herrschaften auszurechnen. Es liegt, zählt man den verstorbenen Cash, der mittlerweile 90 Jahre alt wäre, mit, bei sage und schreibe rund 71 Jahren. Gottlob rangiert auf dem siebten Platz meiner Top 50 eine Kapelle, die im Vergleich zu vorgenannter Rentner-Truppe beinahe jugendlich anmutet. Beinahe zumindest, denn das klassische Lineup von „Element of Crime“ mit Sven Regener, Jakob Ilja, Richard Pappik und David Young (der im vergangenen Jahr leider verstorben ist) hat im Mittel ebenfalls bereits 66 Jahre auf dem Buckel. Die Band ist zweifelsohne ein Phänomen in der deutschen Musiklandschaft. 1985 gegründet, brachte sie zunächst 3 Alben (+ 1 Live-Album) in englischer Sprache heraus, ehe sie 1991 mit „Damals hinterm Mond“ ihr erstes deutschsprachiges Werk veröffentlichte. Seitdem bringt sie, im Schnitt rund alle 3 Jahre, einen neuen Longplayer auf den Markt, wobei sich der Abstand zwischen den Releases etwas vergrößert hat, seit Sänger, Gitarrist, Trompetenspieler und Texter Regener auch Bücher veröffentlicht („Herr Lehmann“, erschienen 2001, sowie die 5 Nachfolgeromane). Dessen Erfolge als Schriftsteller wirkten sich wiederum positiv auf die Popularität von „Element of Crime“ aus. War die Band bis „Romantik“ (2001) eher ein Geheimtipp, mit Platzierungen zwischen 11 und 29 in den Album-Charts, landeten alle Alben ab „Mittelpunkt der Welt“ (2005) in den Top 10 und heimsten teilweise sogar goldene Schallplatten ein. Ich habe „Element of Crime“ erstmals Anfang der 90ger Jahre bei Herrn F. gehört. Der hatte sich „Damals hinterm Mond“ gekauft und ließ seine Kumpels an seiner Freude an diesem Werk teilhaben. Etwas Vergleichbares kannten wir damals nicht. Musik, auf deutsch gesungen, war entweder banal (Schlager), albern und ordinär (Die Ärzte) oder bedenkenträgerisch (Grönemeyer). Dass man, wie Regener es bei „Blaulicht und Zwielicht“ tut, ohne jeden Pathos und ohne auch nur ein bisschen peinlich rüberzukommen „Ich liebe dich“ singen kann, war geradezu sensationell und wir jungen Leute waren entsprechend begeistert. Trotz grundsätzlicher Sympathien, habe ich die Band dann allerdings etwas aus den Augen bzw. Ohren verloren. Erst als ich meine spätere Gattin, einen eingefleischten „E. o. C.“-Fan, Anfang der Nuller Jahre näher kennenlernte, erschienen die damals noch knackigen Mittvierziger wieder auf meinem musikalischen Radar. Da Songs von deren ersten 6 Platten fortan bei beinahe jedem Rendez-vous mit meiner Herzensdame liefen, lernte ich deren Œuvre bald gut kennen und entwickelte mich selbst langsam aber sicher zum Anhänger der Gruppe. Wir „Element of Crime“-Fans schätzen wohl besonders die Beständigkeit unserer Idole. Das ist keine Band, die sich alle schießlang neu erfinden muss, aktuelle Trends oder neue technische Errungenschaften werden von ihr dezent ignoriert. Ihre Musik ist irgendwie aus der Zeit gefallen, und das war sie auch schon vor 30 Jahren. Und gerade diese Tatsache macht sie letzten Endes zeitlos. Nichts hat schließlich so eine kurze Halbwertszeit wie Musik, die dem Zeitgeist hinterherhechelt. 80ger-Jahre-Synthie-Pop z. B. klang bereits Mitte der 90ger Jahre billig und abgeschmackt, weil man die damals hippen und exklusiven Sounds in der Zwischenzeit mit jedem 50-D-Mark-Keyboard erzeugen konnte. Sven Regener hat einmal berichtet, dass seine Band lediglich 3 bis 4 Lieder hat, sie bespielt ein fest abgegrenztes Terrain aus bestimmte Themen oder musikalischen Stilen, die immer wiederkehren und immer wieder neue Ergebnisse bringen. Man könnte sich die Mühe machen, diese Stile aufzulisten: da hätten wir Schlager, Chanson, Walzer, Polka, Blues, ein bisschen Rock, ein bisschen Jazz. „Element of Crime“ haben das geschafft, was nicht vielen Künstlern gelingt, nämlich aus den verschiedenen Zutaten einen unverwechselbaren, einen „E. o. C.“-Stil zu kreieren; es dauert i. d. R. nur ein paar Takte, bis man erkennt, dass man es mit einem Lied des Quartetts zu tun hat. Manch einer mag einwenden, dass Musiker, die seit so langer Zeit immer denselben Stiefel spielen, einfach zu faul und zu risikoscheu sind, mal etwas Neues auszuprobieren. Ich hingegen denke, es ist wichtig, dass es Bands wie „Element of Crime“ gibt, bei denen man, wenn sie eine neue Platte herausbringen, weiß, was einen erwartet und bei denen man sicher sein kann, dass man gut und kurzweilig unterhalten wird. Ich habe lange überlegt, ob ich „Weißes Papier“ oder „Mittelpunkt der Welt“ in meine Liste aufnehmen soll. Beide Platten sind m. E. in etwa gleich gut. Das 93ger Album hat schlussendlich dass Rennen gemacht, und zwar einfach aus dem einfachen Grund, weil ein Lied mehr drauf ist.